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Komm, gib Oma ein Küsschen!

Warum unsere Kinder selbst über ihren Körper entscheiden dürfen

Körperliche Übergriffigkeit gegenüber kleinen Kindern erlebe ich immer wieder und jedes Mal bleibe ich mit einem schlechten Gefühl zurück. Auch wenn es mir selber bei meinen Kindern passiert ist und ich immer noch in Situationen komme, wo ich mir selber anders nicht mehr zu helfen weiß. Grundsätzlich ist es für mich dennoch total selbstverständlich geworden meine Kinder zu fragen bevor ich sie zum Beispiel hochnehme, in den Autositz setzte oder den Mund abwische. Ich hole mir ihr Einverständnis. In den meisten Fällen ist das auch gar kein Problem. Wenn wir zum Auto gehen, wissen sie, dass sie in die Sitze sollen und dann sag ich dem Zweijährigen höchstens „Ich heb dich jetzt rein.“ Das passiert mit seiner Zustimmung und wenn nicht macht er das deutlich. Dann darf er selber einsteigen.
Das Thema betrifft, wie ich finde, viel Alltagsbereiche. Vermeintliche Kleinigkeiten oder Handlungen gegenüber Kindern, die wohl nur die Wenigsten als körperlich übergriffig betrachten würden.
Für viele Eltern ist es fast schon normal ihre Kinder vom Spielplatz wegzutragen oder einfach, wenn es Zeit ist zu gehen – also aus Elternsicht versteht sich. Gleiches gilt für das Hinlegen eines Kindes beim Wechseln von Windeln oder einen Pullover über den Kopf zu ziehen.

Unsere Kinder sind uns körperlich unterlegen, darüber lässt sich kaum streiten. Umso wichtiger ist es, dass wir achtsam mit dieser Überlegenheit umgehen und Kindern keine Machtlosigkeit vermitteln.

Gegen den eigenen Willen weggetragen zu werden oder hochgenommen oder von irgendwo runtergenommen – Zack hoch auf die Schaukel oder die Rutsche. Vom Stuhl genommen und auf den Schoß gesetzt. In den Kinderwagen gehoben werden, obwohl man gerade noch den Stein anschaut. In ein Bett gelegt zu werden, wo man alleine nicht wieder rauskommt. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wieviel Frust das Gefühl der Hilflosigkeit auslösen muss. Dieser muss sich nicht unbedingt direkt in der Situation zeigen, aber wird sich ganz sicher irgendwann Luft machen. In der eh schon sensiblen Zeit der Autonomiephase kann das fatal sein. Überlegt euch also gut, wann ihr eure Überlegenheit ausnutzt und achtet mal darauf, wie oft ihr eure Kinder – unbewusst!? – ohne Zustimmung irgendwo hin hebt. Es sind eben nicht nur die offensichtlichen Situationen in denen sich das Kind schreiend wehrt, sondern viele kleine Momente im Laufe eines Tages, in dem das Kind in seiner Selbstwirksamkeit eingeschränkt wird!

Hygiene – was muss, das muss!?

Haare waschen, Nägel schneiden, Zähne putzen, anziehen und wickeln. Themen die in wohl fast allen Familien mit kleinen Kindern zu Problemen führen. Bist du auch der Meinung: Was sein muss, muss sein? Täglich Zähne putzen, Klamotten wechseln oder Haare kämen!? Ich sag nein, nichts muss sein! Es ist der Körper deines Kindes und nur dein Kind darf entscheiden, was und wann mit seinem/ihrem Körper passiert. Eines meiner Kinder hat lange Haare. Die dürfen weder geschnitten noch gewaschen werden. Genauso sensibel ist er, was das Schneiden von Nägeln angeht. Er spielt liebend gerne in und mit Wasser, aber auf seinem Kopf – lieber nicht! Seine Haare wurden also bisher nur selten gewaschen, mit Shampoo schon mal gar nicht. Durch wildes planschen in der Wanne werden sie aber durchaus nass und das reicht auch. Kein Kind muss Haare waschen müssen.

Weder ungewaschene Haare, noch ungeputzte Zähne bringen jemanden um und ausfallen tun sie auch nicht sofort. Mir ist einfach total wichtig, meine Kinder in Bezug auf ihre Körper zu nichts zu zwingen. Ich biete an, ich erkläre und schlussendlich warte ich einfach ab, bis sie so weit sind. Vor ein paar Tagen hat sich mein Sohn dann zum ersten Mal selber die Haare gewaschen. Ganz von allein mit Schaum, einfach so, weil er es wollte und konnte!
Ich möchte vor allem dafür sensibilisieren, sich bewusst zu machen, dass die körperliche Integrität des Kindes verletzt wird. Und ich glaube, dass viele dieser Themen von Angst dominiert werden. Angst vor dem was passieren könnte, Angst davor was die anderen denken mögen. Unsere eigene Erziehung und Erleben aus der eigenen Kindheit spielen natürlich auch mit rein.

Psychischer Druck schadet genauso!

Nun kommt es nicht nur darauf an, dass wir körperlich Abstand nehmen. Gerade in Bezug auf Hygiene ist mentaler Druck und Manipulation durch Worte genauso schädlich. Das Kind z.B. immer wieder darauf hinzuweisen: „So sehen die Haare aber nicht schön aus.“ oder gar zu drohen: „Dann lachen alle über dich.“ Vielleicht bringt es dich ans Ziel und dein Kind lässt sich waschen. Letztendlich vermittelst du deinem Kind dennoch, dass es nicht richtig ist, so wie es ist.

Zähne lassen sich leichter reparieren, als die Seele!

Was hilft? Den Druck rausnehmen, feststellen was DIR wichtig ist und warum es DIR wichtig ist. Klarheit zu haben über die eigenen Werte, hilft uns im Alltag gelassener zu reagieren. Hinschauen warum das Kind etwas nicht möchte und gemeinsam nach kreativen Lösungen suchen. Vielleicht kann Papa besser Zähne putzen als Mama? Vielleicht reicht Zähne putzen morgens und mittags? Oder die Zähne werden im Bett geputzt? Vielleicht juckt der Pullover und ein anderer klappt besser? Ihr könnt auch schon mit eurem Kleinkind reden und ehrlich äußern was ihr euch wünscht (zB täglich Zähne putzen). Unsere Kinder haben oft ganz wunderbare Ideen, wenn wir ihnen die Chance geben sie mit einzubeziehen. Wenn wir offen sind für Vorschläge, gibt es viele Möglichkeiten Zähne zu putzen oder die Windel ans Kind zu bekommen.

Wenn Kleinkinder Konflikte alleine lösen sollen

„Kinder müssen lernen Konflikte allein zu lösen.“ Für größere Kinder mag das zutreffen – ab welchem Alter genau die Voraussetzungen erfüllt sind hängt dennoch von den Entwicklungen der Kinder ab.
Von Kleinkindern können wir es nur bedingt erwarten! Kinder in dem Alter besitzen weder die Fähigkeit echte Empathie zu empfinden, also sich in den anderen hineinzufühlen, noch haben sie passende Strategien zur Lösung von Konflikten. Die allermeisten können ja noch nicht mal sprechen. Was bleibt ihnen also, wenn sie in Konflikten sind und keine Hilfe von Erwachsenen bekommen? Sie hauen, treten, beißen, schupsen, werfen Sachen! Sie wehren sich körperlich oder sie versuchen sich körperlich durchzusetzen. Sie greifen auf die Mittel zurück, die ihnen zur Verfügung stehen.
So oft sehe ich Konfliktsituationen zwischen Kleinkindern und Eltern, die abwartend daneben sitzen. Nicht wissen, was sie tun sollen oder eben dem Glauben unterliegen, Kinder müssten das alleine regeln! Damit unsere Kinder irgendwann Konflikte konstruktiv und gewaltfrei selber lösen können, brauchen sie unsere Hilfe und uns als Vorbilder.

Was solltet ihr tun, wenn ihr beobachtet, dass ein Konflikt zwischen Kleinkindern entsteht: Ihr seid verdammt noch mal da! Ihr begleitet euer Kind. Ihr redet und vermittelt. Ihr hüpft dazwischen, bevor einer haut oder beißt. Ihr setzt euch zwischen die Kinder, wenn es sein muss. Ihr fangt Spielzeug auf, welches geworfen wird. Ihr schützt die Kinder, sowohl euer eigenes als auch andere. Immer zuerst das Kind welches unterlegen ist.

Das ist ganz sicher eine anstrengende Zeit. Ich weiß, dass aus eigener Erfahrung. Habe ich nun schon ein drittes Kind, welches im Umgang mit anderen Kindern körperlich ist. Mich gemütlich in die Spielgruppe setzen, mit anderen Mamas plaudern und den Kindern beim Spielen zusehen – nicht möglich. Ich bin maximal eine Armlänge von meinem Kleinen weg und beobachte ihn unentwegt. Mit Kindern, die er schon kennt, ist es deutlich entspannter. Fremde Kinder, vor allem wenn sie kleiner sind, werden zur Seite geschoben, umgeschubst oder auch gekniffen. Ob ich das gut finde? Nein, natürlich nicht. ABER ich weiß, dass es zu seiner Entwicklung dazu gehört. Ich muss ihn dafür nicht bestrafen oder ausschimpfen. Ich bin da und erkläre, ich vermittle, wenn nötig und zeig ihm Alternativen. Diese können sein, STOP sagen oder zeigen (mit erhobener Hand), eine Vertrauensperson um Hilfe rufen oder weg gehen!

Dieses Kind mag es zum Beispiel überhaupt nicht, wenn er rutschen möchte und schon ein anderes Kind auf der Leiter steht. Das versucht er auch mit Nein und ausgestreckter Hand deutlich zu machen. Die meisten Kinder verstehen diese Bitte von ihm allerdings nicht. Also stehe ich immer daneben – jedes verdammte Mal und erkläre und bitte die anderen Kinder unten zu warten. Oder ich ermutige meinen trotzdem zu rutschen und ihm zu versichern, dass die anderen warten – je nach Situation.

Kleinkinder spielen nicht miteinander, sondern eher nebeneinander her.

Bei Kindern die stark körperlich reagieren, funktioniert das gemeinsame Spielen selten reibungslos. Also heißt es dabei sein. Neben den spielenden Kindern zu sitzen und wenn nötig zu vermitteln. „Du möchtest das blaue Auto auch gerne haben? Damit spielt A gerade. Nimmst du solange das grüne?“ Das Konzept von tauschen, warten, teilen können Kinder in dem Alter noch nicht begreifen. Sie brauchen uns als Übersetzungshilfe, damit es auch alleine irgendwann klappt. Sie verstehen zum Beispiel auch noch nicht, dass das Spielzeug gleich wieder da ist.

Übrigens halte ich vermeiden in schwierigen Phasen auch für eine super Strategie, um uns Eltern Stress zu ersparen. Das Kind verpasst nichts, wenn wir eine Weile nicht ins Kinderturnen gehen oder uns mit anderen zum Spielen nur draußen treffen – auf neutralem Boden. Wenn jeder Besuch der Spielgruppe ausartet und ihr ein frustriertes Kleinkind begleiten müsst, dabei selber Stress habt und gemein werdet, dann ist es empfehlenswert mal einen Gang zurück zu schalten. Weniger ist in dem Fall mehr!

Jetzt mach mal Ei und entschuldige dich!

Eine Entschuldigung sollte von Herzen kommen und ernst gemeint sein. Das bedeutet, dass derjenige der sich entschuldigt bereut, was er getan hat. Es tut ihm leid, den anderen verletzt zu haben und durch eine Entschuldigung gibt es die Möglichkeit sich wieder zu vertragen. Vorausgesetzt der „verletzte“ Part ist bereit dazu.
Kann ein 1,5-jähriges Kind diese Bandbreite verstehen? Nein, ganz klar kann es das nicht! Es ist kognitiv noch gar nicht in der Lage sich in jemanden anderen einzufühlen. Viel zu oft ist es mitten in der Autonomiephase ja noch mit seinen eigenen Gefühlen überfordert. Außerdem haben Kinder in diesem Alter IMMER einen Grund für ihr Handeln – IMMER!!! und zwar einen guten (aus ihrer Sicht). Nur ist die gewählte Strategie vielleicht die falsche und nicht eine gesellschaftstaugliche!

Wir sollten als Eltern also hingehen und schauen, was gerade los ist beim Kind. Was braucht es? Wie kann ich ihm helfen Situationen, in denen es z.B. gehauen hat, beim nächsten Mal anders zu lösen. Welche Strategien kann ich ihm mitgeben? Und ja ihr dürft und sollt auch ganz klar sagen, dass Hauen nicht ok ist. Nur dann euer Kind zu bestrafen (indem ihr den Spielplatz verlasst) oder es zum Entschuldigen zu zwingen, hilft ihm nicht weiter!
Was ich darüber hinaus besonders kritisch sehe: Kindern beizubringen, dass es ok ist ungefragt Körperkontakt herzustellen. Erst recht als Entschuldigung: „Komm mach mal Ei bei A, dann ist wieder gut.“ Also zum Beispiel über die Wange oder den Kopf zu streicheln oder einen Kuss geben.

Stellt euch vor, da kommt jemand und brät euch mit einem Spielzeugauto (oder einer Bratpfanne) eins über. Euer Kopf explodiert förmlich und ihr habt Schmerzen. Jemand weist den Täter darauf hin: „Das war aber nicht nett, guck mal A weint jetzt. Geh hin und gib ihm Küsschen“. Ganz ehrlich, würdet ihr das wollen?
Aus meiner Sicht wird das Kind dann gleich zweimal zum Opfer. Erst von Gewalt in Form von körperlichem Schmerz und dann von Übergriffigkeit. Was vermitteln wir den Kindern damit: Es ist ok, wenn dir jemand weh tut und jetzt stell dich nicht so an du bekommst ja auch einen Kuss!

Viele Kleinkinder sind verzweifelt, wenn ein anderes Kind weint oder gar erschrocken, dass ihre Handlung dazu geführt hat. Dann können wir natürlich helfen und vorschlagen das andere Kind zu trösten. GANZ WICHTIG: Achtet dabei auf die Signale des weinenden Kindes. Wendet es sich ab, dann möchte es keinen Kontakt. Redet mit den Kindern über die Reaktionen des anderen. So begreifen sie und lernen Emotionen zu verstehen. Im Zweifel müssen dann auch zwei Kinder getröstet werden. Das Opfer-Kind und das was gerne trösten möchte, aber nicht darf.

Küsschen geben – nicht mit mir!

Dann gibt es noch eine andere Art von körperlicher Übergriffigkeit. Nämlich die der „lieben“, vermeintlich gut gemeinten. Das wären zum einen die Küsschen oder Umarmungen, von der Tante oder Oma, die die Kinder nicht wollen. Besonders in der Vorweihnachtszeit wird immer wieder darauf hingewiesen, dass Kinder das Recht haben diese Umarmungen abzulehnen und wir als Eltern sie dabei unterstützen sollen! Absolut!

Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt. Nämlich Kinder die gerne umarmen oder Küsschen geben und von ihren Eltern auch noch aufgefordert werden, dem anderen doch mal zu drücken. Dazu möchte ich euch gerne von einem Erlebnis berichten:
Zwei Kinder beide ca. 18 Monate. Eines sehr offen, zugewandt, geht ohne Scheu auf andere Kinder zu und umarmt diese gerne. Das andere eher zurückhaltend, sitzt viel bei Mama und spielt ruhig an einem Platz. Kind 1 läuft auf Kind 2 zu und umarmt es. Kind 2 ist dies sichtlich unangenehm. Es möchte weg, die Umarmung lösen, versucht sich bei Mama zu verstecken. Kind 1 bleibt hartnäckig. Beide Mütter sitzen daneben und unternehmen nichts. Kind 2 macht durch Mimik und körperliche Abwehrhaltung sehr deutlich, dass es ihm zu viel ist. Auf meinen Einwand, Kind 2 möchte das nicht, kommt nur „Ach das ist doch süß!“ Zum Kind gewandt dann noch: „Hey ist nicht so schlimm, sie will dich nur umarmen. Wie lieb!“
Kind 1 überschreitet in der beschriebenen Situation ganz klar die Grenzen des anderen und es wäre die Aufgabe von Erwachsenen, dies zu verhindern. Wenn Kinder hauen oder beißen wird da nicht viel rum diskutiert, das wird verhindert oder bestraft. Aber umarmen ist doch halb so wild. Ich sage Nein, ist es nicht! Es ist genauso wichtig deutlich zu machen, dass es nicht ok ist! Solche Situationen sind weder „total süß“ noch „halb so schlimm“. Wenn ein Mensch eine Umarmung, ein Kuss, ein Streicheln oder sonstige körperliche Zuwendung nicht möchte und das mit dem ihm vorhanden Mitteln ausdrückt, ist es unsere Pflicht zu schützen.

Respekt kann man nicht erzwingen, aber vorleben!

Körperliche Übergriffigkeit gegenüber kleinen Kindern ist ein weites Thema und mir liegt es sehr am Herzen „Bewusstsein“ zu schaffen. Ich wünsche mir mehr Eltern die ihre Kinder ernst nehmen und ihnen den Respekt – über ihren Körper selber bestimmen zu dürfen – entgegenbringen, den sie verdient haben. Respektieren wir die körperlichen Grenzen unserer Kinder, werden sie ganz automatisch lernen, Grenzen anderer zu wahren und ein gesundes Verhältnis zu ihrem Körper entwickeln.

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