Ein Morgen während der Autonomiephase:
Du schaust auf die Uhr und erschreckst kurz. Mensch, jetzt seid ihr aber schon spät dran! Eigentlich solltet ihr schon unterwegs sein, aber die Morgenroutine dauerte länger als gedacht. Okay, ruhig bleiben, sonst werden die Kinder auch gestresst. Nachdem du die wichtigsten Sachen vom Frühstückstisch in den Kühlschrank geräumt hast gehst du mit den Kindern in den Flur. „Zieh dich bitte an, wir müssen uns beeilen!“ sagst du zum Großen. Schnell ist zwar was anderes, aber immerhin macht er direkt mit. Du schnappst dir Jacke und Mütze deiner Kleinen und willst sie ihr schnell überziehen. Ein deutliches „Nein!“ kommt dir aus dem kleinen Mund entgegen. „Komm‘, ich mach das schnell“, sagst du. Dein Kind hat andere Pläne: „Alleine!“. Sie versucht gerade sich einen Schuh anzuziehen. Falschrum. Jacke und Mütze hast du noch in der Hand. Der Große ist fast fertig. Was nun? Sie machen lassen? Ihr die Sachen überziehen? Ein weiterer Blick auf die Uhr. Definitiv keine Zeit mehr. Also bereitest du dich innerlich auf ein wütendes Kleinkind gefasst, die Kleine anzuziehen. Sie fängt lauthals an zu weinen, dreht sich weg und windet sich. Du bist schon nass geschwitzt bis du sie endlich angezogen hast. Jetzt aber los, raus aus der Tür und ab ins Auto. Mit einem immer noch weinenden Kind.
Was für ein herrlicher Morgen!
Autonomiephase – was steckt dahinter?
Kommen dir diese oder ähnliche Situationen bekannt vor? Dann befindet sich dein Kind wahrscheinlich gerade in der Autonomiephase. Ich kann dich beruhigen, so ziemlich alle Eltern kennen diese Phase. Sie bringt zwar einige Herausforderungen mit sich, aber sie gehört zur gesunden Entwicklung deines Kindes dazu.
Damit du das schaffst, dich besser in dein Kind einzufühlen möchte ich dir ein wenig Hintergrundwissen mitgeben. Denn ein gelassener Umgang gelingt dir einfacher, wenn du dein Kind verstehst.
Ursachen
Was erlebt dein Kind in dieser Zeit?
Der grobe Zeitraum der Autonomiephase ist ca. im Alter von 1,5/2 bis 3 oder 4 Jahren.
Dein Kind lernt sich in dieser Zeit selbst als eigenständigen Menschen kennen und möchte das ausleben.
Kinder in diesem Alter ahmen nach, was sie beobachten. Leider steht das oft in Konflikt mit dem, was sie körperlich bereits können. Beispielsweise möchte sich dein Kind vielleicht alleine anziehen, ist aber motorisch noch nicht in der Lage dazu. Oder es möchte etwas aus einer Schublade holen, kann diese aber noch nicht alleine öffnen. Dein Kind kommt an seine Grenzen im Hinblick auf körperliche und motorische Fähigkeiten. Das passiert im Alltag immer wieder, was im Konflikt dazu steht, Eigenständigkeit zu entwickeln. Dadurch kann schonmal der ein oder andere emotionale Ausbruch entstehen, oder? Vielleicht kennst du das ja von dir selbst: An manchen Tagen gelingt dir einfach diese eine Sache nicht und du würdest sie am liebsten aus dem Fenster schmeißen.
Dein Kind kollidiert zusätzlich zu seinen körperlichen Gegebenheiten mit den Erwartungen der Erwachsenen. Denn Eltern haben oft einen anderen Zeitplan als die Kinder. Unsere Erwartungen kollidieren mit denen des Kindes, was wiederum zu Konflikten und Wut (beiderseits) führen kann. Das stellt den Alltag vor einige Herausforderungen!
Was die Gehirnentwicklung damit zu tun hat
Ich möchte dir einen kleinen Einblick in dieses Thema geben, damit du die Autonomiephase ein wenig besser verstehst.
Das Gehirn deines Kleinkindes ist noch nicht fertig entwickelt. Es entwickelt und verknüpft sich bis etwa zur Mitte des 20. Lebensjahres. Da ist also noch eine Menge Luft nach oben.
Sehr vereinfacht gesagt besteht unser Gehirn aus drei Bereichen.
1. Dem emotionalen Bereich, in dem die Emotionen verankert sind,
2. Dem rationalen Bereich, der für die Logik zuständig ist und
3. Dem Stammhirn. Dort sitzen Erfahrungen und Handlungen werden von hier gesteuert.
Wenn dein Kleinkind einen Wutanfall hat, ist der logisch denkende, rationale Teil des Gehirns ausgeschaltet. Es befindet sich ausschließlich im emotionalen Teil des Gehirns. Damit sind logische Handlungen ausgeschlossen.
Deshalb bringt es wenig bis gar nichts, auf dein Kind einzureden und ihm erklären zu wollen, dass es sich beruhigen soll. Hast du dich schonmal beruhigt, weil jemand sagte: „Beruhige dich“? Ich vermute nicht, denn im Gehirn eines Erwachsenen sieht es ähnlich aus.
Was dein Kind jetzt braucht sind keine Erklärungen oder Anweisungen, sondern Begleitung durch seine Gefühle hindurch. Diese Ko-Regulation von außen ist sehr wichtig in diesem Alter. Unsere Aufgabe als Eltern oder Bezugsperson ist es, unseren Kleinkindern zu helfen aus dieser emotionalen Fahrt wieder heraus zu kommen und sich regulieren zu können. Nur dann kann auch der rationale Bereich des Gehirns wieder „angeschaltet“ werden. Erst dann kannst du deinem Kind im Gespräch weiterhelfen und darüber sprechen, was passiert ist.
Umgang
Was braucht dein Kind?
Jedes Kind ist anders, daher gibt es kein Patentrezept, besonders nicht für die Autonomiephase. Stattdessen möchte ich dir Anregungen geben, die du mit deinem Kind im Falle eines emotionales Ausbruchs ausprobieren kannst um zu schauen, was für euch funktioniert. Das kann natürlich je nach Situation unterschiedlich sein.
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Körperkontakt
Das bedeutet kuscheln, in den Arm nehmen, streicheln usw. Durch die körperliche Nähe wird das Hormon Oxytocin freigesetzt, welches beruhigend wirkt.
Achtung: nicht alle Kinder mögen Körperkontakt, besonders nicht während eines Wutanfalls. Das solltest du unbedingt berücksichtigen und respektieren. Frage dein Kind lieber vorab: „Soll ich dich in den Arm nehmen? Möchtest du zu mir kommen?“. Wenn es verneint gilt: Das Kind nicht hochnehmen oder wegtragen. Greife nur ein, wenn Verletzungsgefahr für sich oder andere besteht. -
Dasein
Es klingt so einfach und kann doch so herausfordernd sein! Denn vielleicht stehst du auch gerade kurz vor einer Explosion. Dennoch kannst du deinem Kind zeigen, dass du für es da bist. Dass du seine Emotion annehmen kannst, ohne etwas an der Situation ändern zu wollen. Auch wenn dein Kind gerade keinen Körperkontakt oder Trost möchte. Signalisiere, dass du wartest, bis es bereit dazu ist.
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Strahle Ruhe aus, wenn du kannst
Unsere Gehirne sind über Spiegelneuronen miteinander verbunden. Diese können wir nutzen, um dem Kind zu helfen, sich zu regulieren. Das heißt besonders in der Autonomiephase: Wenn du es schaffst selbst ruhig zu bleiben, hilft das auch deinem Kind. Die Spiegelneuronen deines Kindes empfangen das, was deine Spiegelneuronen senden. Wenn du also unter Stress stehst, kann sich das auf dein Kind auswirken. Ich weiß, es ist ein Prozess und es wird nicht jedes Mal gelingen. Aber bleibst du ruhig, atmest tief durch und konzentrierst dich auf dich, hilft das dem Kind aus seinem Gefühlschaos heraus zu kommen.
Ich habe für dich eine einfache, aber effektive Atmenübung aufgenommen. Probiere es gerne mal aus, wenn es dir schwer fällt ruhig zu bleiben.
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Spiegele die Gefühle deines Kindes
Das nennt sich „paraphrasieren“. Es bedeutet du wiederholst was geschehen ist, z.B.: „Du bist gerade sehr wütend, weil du deine Socken nicht anbekommst“. Du sagst das ganz ohne Bewertung, sondern wiederholst und benennst nur was du siehst. Du kannst auch das Gefühl benennen („verbalisieren“), dass du vermutest, wie im Beispiel. So kann dein Kind lernen seine Gefühle künftig einzuordnen. Was ich damit nicht meine ist während eines Wutanfalls zu deinem Kind zu sagen. „Ich weiß, du bist müde“. Denn was es gerade fühlt ist Wut, keine Müdigkeit. Auch wenn sie vielleicht dahintersteckt, hebe dir dieses Gespräch auf, bis der rationale Teil des Gehirns wieder funktioniert.
Kinder werden von ihren Gefühlen übermannt. Sie wissen nicht, dass es Wut ist, was sie gerade fühlen. Sie wissen auch nicht warum sie so fühlen. Du kannst deinem Kind also helfen, indem du das Geschehe in Worte fasst. -
Neutrale Benennung
Häufig beruhigen sich Kinder, wenn du einfach sagst, was du gesehen hast: „Du bist hingefallen“. Sie fühlen sich gesehen und sind sicher, dass da jemand ist der merkt, was mit ihm los ist.
Die Autonomiephase in der Öffentlichkeit
Uns allen graut es vor Wutausbrüchen in Supermärkten oder an der Garderobe in der Kita. Es ist nochmal herausfordernder, wenn es in der Öffentlichkeit passiert und wir uns beobachtet fühlen. Das macht es nicht leichter ruhig zu bleiben. Daher sei dir sicher: Alle Eltern kennen das und du bist damit nicht allein! Es ist Übungssache in diesen Situationen die Mitmenschen auszublenden und bewusst bei dir und deinem Kind zu bleiben. Stelle dir vor, dass die anderen Eltern im Zweifel, Mitgefühl haben und diese Situationen auch kennen. Halte dir vor Augen, dass dein Kind nicht aus Absicht handelt. Es zeigt dir, dass es mit einer Situation komplett überfordert ist.
Kinder möchten kooperieren
Unsere Kinder wollen immer mit uns kooperieren. Sie haben kein Interesse an Macht, sondern sind auf der Suche nach Zuwendung. Sie sind von Natur aus kooperationsbereit.
Die Kooperationsbereitschaft kann sich aber im Laufe des Tages aufbrauchen. Das klingt vielleicht komisch, aber es ist wichtig, das zu berücksichtigen. Du solltest individuell den Charakter deines Kindes betrachten und den Tagesablauf nach Möglichkeit entsprechend anpassen.
Ein Beispiel zum besseren Verständnis:
Kindergartenkinder verbringen mehrere Stunden in der Betreuung und müssen dort sehr viel kooperieren. Nachmittags sind sie davon fix und fertig. Das kannst du berücksichtigen, indem du keine Termine direkt nach der Kita legst. Stattdessen schaue, was dein Kind braucht. Kuschelzeit? Einen Spaziergang in der Natur? Finde heraus, wie dein Kind den Alltagsstress abbaut und gebe ihm diese Möglichkeiten. Das wird euren Alltag immens erleichtern.
Denn auch ohne Termine gibt es noch genügend Anforderungen zur Kooperation im Alltag wie Mahlzeiten, Zähne putzen, etc.
Wie kannst du den Alltag während der Autonomiephase erleichtern?
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Plane mehr Zeit ein
Wenn du weißt, dass dein Kind gerade sehr viel Wert auf Eigenständigkeit legt, dann plane extra Zeit ein. Das muss nicht für immer so sein, denn wie der Name schon sagt, die Autonomiephase ist eine Phase. Sie geht wieder vorbei.
Wenn dein Kind sich alleine anziehen will, dann plane diese Zeit ein, lass‘ es machen und ausprobieren. Wenn es schon spät ist kannst du das deinem Kind mitteilen. Sei authentisch und sage auch mal, wenn du genervt bist. Das gehört dazu! -
Pausen für dich
Auch für dich als Elternteil ist die Autonomiephase deines Kindes sehr herausfordernd. Deshalb ist es umso wichtiger, dass du dir Zeit für dich einplanst, damit auch deine Batterien wieder aufladen können. Sorge für deine persönliche Auszeit, denn wenn du es nicht tust, übernimmt es in der Regel niemand für dich. Je entspannter du bist, desto besser kannst du mit der Emotionalität deines Kindes umgehen.
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Nehme die Wut deines Kindes nicht persönlich
Wenn dein Kind sauer ist, fällt es dir vielleicht manchmal schwer, die Wut nicht persönlich zu nehmen. Viele von uns haben in der eigenen Kindheit nicht erlebt, dass Gefühle ok sind. Wir wurden damals noch anders erzogen. Häufig stand Gehorsam im Vordergrund.
Das kann ein Grund sein, dass du dich von der Wut deines Kindes getriggert fühlst. Dein Kind meint es nicht böse. Es braucht dich und deine liebevolle Begleitung. -
Hinterfrage deine Glaubenssätze
Diese spielen in der Erziehung eine große Rolle. Ängste wie: „Mein Kind wird ein Tyrann“, oder „das Kind tanzt mir auf der Nase herum“ verstärken die Probleme des Alltags, statt sie zu lösen. Deshalb ist es wichtig, deine Glaubenssätze zu erkennen und aufzulösen, denn sie entsprechen nicht der Wahrheit. Dein Kind nutzt dich nicht aus, wenn du seinem Willen „nachgibst“. Das Gegenteil ist der Fall: Bedürfnisse die erfüllt werden, verschwinden. Unerfüllte Bedürfnisse verschwinden nicht.
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Halte dir dein Erziehungsziel vor Augen
Alles, was während der Autonomiephase im Alltag zu lange dauert, wie beispielsweise das Anziehen, ist eigentlich ein Schritt hin zur Selbständigkeit. Dein Kind kann Dinge nur lernen, wenn es sich ausprobieren und üben darf. Langfristig möchtest du sicher, dass dein Kind sich alleine anziehen kann und dir beim Tischdecken hilft. Mache dir daher bewusst, dass es nicht lernen wird, bis es üben darf.
Fazit
Oft verstehen wir nicht, warum gerade Weltuntergangsstimmung ist und das müssen wir auch nicht. Du musst nicht immer wissen, was der Auslöser ist, aber versuchen für dein Kind da zu sein. Ihm zeigen, dass du seine Gefühle annehmen kannst und es durch seine Emotionen leitest.
Ich finde es ziemlich erleichternd für uns Eltern, dass wir nicht immer eine Lösung brauchen. Ich weiß aus Erfahrung, dass es nicht einfach ist eines oder mehrere Kleinkinder im Alltag durch ihre Gefühle zu begleiten. Im Gegenteil, es ist eine hochemotionale Arbeit, die oft nicht gesehen wird.
Wir können am Abend selbst kaum in Worte fassen, warum wir so erschöpft sind. Es ist anstrengend, diese Achterbahn der Gefühle während der Autonomiephase zu begleiten. Es ist ok, dass du das nicht den ganzen Tag schaffst. Wir brauchen Pausen um das zu schaffen, deshalb plane sie dir unbedingt ein und hole dir ggf. Unterstützung.
Verurteile dich nicht, weil dein Kind mittags eine halbe Stunde Videos schaut. Auch das ist in Ordnung! Es schadet deinem Kind weniger, wenn es eine halbe Stunde Fernsehen schaut, du nach der Pause aber entspannter bist, als wenn du gereizt bist und dein Kind anmotzt, weil du die Wutanfälle nicht begleiten kannst.
Wenn du dir Unterstützung und Begleitung in dieser herausfordernden Zeit wünschst, dann komme gerne in meinen Online-Kurs „Gelassen durch die Kleinkindzeit“. Für Inspirationen im Alltag folge mir auf Instagram und höre dir meinen Podcast an.
Ich freue mich auf dich,
Ines
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